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Krank zur Arbeit

Veröffentlicht am 13.03.2016
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Die angespannte Wirtschaftslage erhöht den Druck,  sich krank zur Arbeit zu schleppen
Wer eigentlich das Bett hüten sollte und trotzdem am Arbeitsplatz erscheint, gefährdet nicht nur seine Arbeitskollegen. Über die Folgen falschen Pflichtbewusstseins.
 
Von Manuela Specker

Die Grippewelle schwächt sich wieder ab.  Sie wäre vermutlich gar nie so stark geworden, wenn alle im Krankheitsfall das tun würden, was jeder Arzt empfiehlt: im Bett bleiben und sich auskurieren. Nur kann man es sich heute in vielen Jobs mit Termin-, Zeit- und Leistungsdruck kaum mehr erlauben, krank zu sein – erst recht, wenn Vorgesetzte eine Abwesenheit als Schwäche deuten würden und selber mir schlechtem Beispiel vorangehen. Es kommt sogar vor, dass Mitarbeitende, die das ganze Jahr über nie gefehlt haben, am Ende eine Prämie erhalten. So fördern Betriebe den Präsentismus,  also die Anwesenheit trotz gesundheitlicher Probleme, aber ganz bestimmt nicht die Produktivität.
 
Die gesunkene Absenzenquote in der Schweiz ist deshalb nur auf den ersten Blick erfreulich: Laut Bundesamt für Statistik  betrug sie im Jahr 2014 nur noch 3,7 Prozent. Zum Vergleich: 1995 lag sie über 5 Prozent.  Das liegt nicht einfach daran, dass die Mitarbeitenden tendenziell gesünder sind – sie  schleppen sich vielmehr auch krank zur Arbeit. In einer Umfrage der Fachhochschule Nordwestschweiz unter 1000 Erwerbstätigen gaben fast 50 Prozent an, in den letzten 12 Monaten trotz Krankheit gearbeitet zu haben. Auch die Gewerkschaft TravailSuisse ist dem Phänomen nachgegangen und hat 1500 Personen befragt. Davon gaben 30 Prozent an, dass sie oft oder sehr häufig arbeiten, obwohl sie krank sind.
 
Der Wegfall des Euro-Mindestkurses  hat die Situation wenig überraschend zusätzlich verschärft. Fred Henneberger und Michael Gämperli vom Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht der Universität St.Gallen sehen als Hauptgrund für den zunehmenden Präsentismus die angespannte Wirtschaftslage und die damit verbundene Arbeitsplatzunsicherheit. Wenn alle fürchten, den Job zu verlieren, will man nicht durch eine Absenz auffallen. Dieses Verhalten schade aber nicht nur dem Betrieb, sondern sogar der Volkswirtschaft, wie die beiden Wissenschaftler in einem Diskussionspapier festhalten.  
 
Die Folgen des falschen Pflichtbewusstseins sind fatal. Wenn Menschen krank zur Arbeit erscheinen, steigt nämlich nicht nur die Unfall- und Ansteckungsgefahr. „Präsentismus erhöht die Wahrscheinlichkeit,  später durch (chronische) Krankheit bei der Arbeit auszufallen“, so Henneberger und Gämperli.
 
Für die Firmen zahlt sich dieses Verhalten also nicht aus: Zahlreiche Untersuchungen konnten nachweisen, dass ein Mitarbeiter, der krank zur Arbeit erscheint, das Unternehmen teurer zu stehen kommt, als wenn er sich zu Hause auskurieren würde.  Präsentismus verursacht höhere Kosten als Absentismus. Das liegt auch daran, dass der betroffene Mitarbeitende, der sich heldenhaft ins Büro schleppt, viel länger braucht, bis er wieder bei vollen Kräften ist.
 
Präsentismus ist nicht nur kontraproduktiv, er steht auch im Widerspruch zu den gestiegenen Anforderungen am Arbeitsplatz, die gut qualifizierte und selbstständig arbeitende  Angestellte voraussetzen. Was zählen sollte in einem solchen Umfeld sind das Ergebnis und die Qualität, aber ganz bestimmt nicht, wie lange jemand im Büro sitzt. Der Präsentismus treibt trotz dieser weit verbreiteten und akzeptierten Erkenntnis seltsame Blüten: Mitarbeitende verlassen das Büro erst nach ihrem Chef, damit sie als besonders fleissig gelten, und anstatt nach all den langen Tagen mit Überstunden auch einmal früher Feierabend zu machen, vertrödeln sie lieber die Zeit am Arbeitsplatz, um nicht in den Verdacht zu geraten, faul zu sein. In exakt diesem Arbeitsklima fühlen sich selbst Erkrankte in der Pflicht, Präsenz am Arbeitsplatz zu markieren.
 
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen und das Problem mit seinen Langzeitfolgen in den Griff zu kriegen, empfehlen Henneberger und Gämperli, Firmenstruktur und  Arbeitsbedingungen zu durchleuchten. Als Beispiele für Fragestellungen nennen sie: Sind die Mitarbeitenden gefordert, aber nicht überfordert? Haben sie eine hinreichende Kontrolle über ihre Arbeit? Werden Leistung und Einsatz anerkannt? Legt man im Betrieb Wert auf eine Vertrauenskultur und auf eine offene Kommunikation sowie Respekt im Umgang miteinander? Entscheidend sind also Unternehmenskultur und Führungsstil. Und das Bewusstsein, dass qualifizierte Mitarbeitende, die frei über Zeit und Arbeitsort bestimmen können, produktiver und zufriedener sind.

Foto: Thinkstock