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Zweite Chance für ersten Eindruck

Veröffentlicht am 03.01.2016
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Um passende Kandidaten zu finden, führt kein Weg am Vorstellungsgespräch vorbei. Der erste Eindruck ist dabei keineswegs immer der richtige.    Von Oliver Stübs*
Jeder Bewerber, jede Bewerberin kann davon ein Lied singen: Der erste Eindruck ist entscheidend. Diese goldene Regel beruht auf der Tatsache, dass Interviewer dazu tendieren, zu einem verfrühten Zeitpunkt ein erstes Urteil zu fällen. Allzu oft wird unkritisch von der Korrektheit des eigenen Urteils ausgegangen; die Fähigkeit, akkurat zu urteilen, wird überschätzt.

Ein professioneller Interviewer sollte deshalb nicht nur geeignete Gesprächstechniken beherrschen, sondern auch die psychologischen Mechanismen der Informationsverarbeitung kennen, die sein Urteil steuern und häufig zu Urteilsverzerrungen führen.  
 
Natürlich enthält der erste Eindruck wertvolle und zutreffende Informationen über den Bewerber. Weil er aber zugleich die gesamte weitere Wahrnehmung und Beurteilung einer Person prägt, muss der erste Eindruck achtsam und selbstkritisch hinterfragt werden. Die Informationsverarbeitung ist nicht einfach ein neutraler Prozess. So wirken auch die Vorinformationen eingereichter Bewerbungsunterlagen darauf ein, wie eine Person wahrgenommen wird. Auch aufgrund des Kleidungsstils oder des Händedrucks werden vorschnell Urteile gefällt, welche den weiteren Interviewprozess steuern.
 
Nicht nur der erste Eindruck beeinflusst die Wahrnehmung des Bewerbenden. Nachfolgend werden vier weitere Verzerrungen erläutert, die das Urteil oft steuern:
 
Bestätigungstendenz
Der Interviewer gestaltet seine Fragen unbewusst so, dass sein erster Eindruck bestätigt wird. Er verhält sich in der Folge seinen Erwartungen entsprechend und provoziert so häufig ein Verhalten, das den eigenen Erwartungen entspricht. Durch dieses Phänomen der selbsterfüllenden Prophezeiung fühlt er sich letztlich in seinem ursprünglichen Urteil bestätigt.
 
Sympathieeffekt
Der Sympathieeffekt beschreibt das Phänomen, dass Menschen dazu neigen, ihr Urteil über eine andere Person von ihren Gefühlen beeinflussen zu lassen. Insbesondere positive Gefühle, die häufig auf einer wahrgenommenen Ähnlichkeit mit der eigenen Person basieren, bestimmen den Eindruck von einer anderen Person und verzerren somit das Urteil. Es besteht die Tendenz, Personen positiver zu beurteilen, wenn wir sie als uns in irgendeiner Weise ähnlich wahrnehmen.
 
3. Stereotype Erwartungen
Prinzipiell besteht die Gefahr, sich bei der Beurteilung einer Person von Vorurteilen und Stereotypen leiten zu lassen. So wird manchen Personen ein bestimmtes Verhalten eher zugetraut, nur weil sie einer bestimmten Personengruppe zugeordnet werden. Ein Problem, mit dem insbesondere ausländische Bewerber konfrontiert werden. Stereotype Erwartungen steuern zugleich unsere Wahrnehmung, die sich darauf ausrichtet, selektive Ereignisse wahrzunehmen, um unsere Vorurteile zu bestätigen.
 
Halo-Effekt
Die Bewertung eines Einzelmerkmals strahlt häufig auf die Bewertung ganz anderer Merkmale aus. Der Gesamteindruck von einer Person wird also durch ein einzelnes Merkmal dominiert. So schätzen wir Menschen im Allgemeinen als sympathischer ein, wenn sie physisch attraktiv sind. Hinzu kommt, dass wir zwischen der Attraktivität, der Persönlichkeit und den Fähigkeiten einer Person einen positiven Zusammenhang annehmen, der in der Realität so nicht besteht. Auch Begleiterscheinungen wie Luxusartikel, Titel, Kleidung oder Körperbau beeinflussen unser Urteil über die Persönlichkeit und Kompetenz einer Person und steuern somit unbewusst unser Verhalten ihr gegenüber. 
 
Trotz dieser Verzerrungen in der Urteilsbildung zeigen Studien, dass Vorstellungsgespräche sich besonders dafür eignen, die künftige Berufsleistung vorauszusagen. Die Validität strukturierter Interviews fällt laut Studien ebenso hoch aus wie die von Intelligenztests und wird lediglich von Arbeitsproben übertroffen. Professionell durchgeführte Vorstellungsgespräche sind daher ein unverzichtbares Instrument, um herausragende Kandidaten zu gewinnen. Auch lässt sich mit der direkten Interaktion klären, ob die „Chemie“ zwischen Kandidat und Unternehmen stimmt. Voraussetzung ist jedoch, dass der Interviewer sich aufmerksam und selbstkritisch mit seinem eigenen Urteilsvermögen auseinandersetzt.
 
* Oliver Stübs ist Senior-Personalberater bei Dr. Schmidt & Partner (drsp) und spezialisiert auf Eignungsdiagnostik und Personalauswahl. Weitere HR-Fachbeiträge sind regelmässig im von drsp veröffentlichten Personalmagazin HRinform zu finden (www.drsp-group.com).

Foto: Thinkstock