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Wenn Algorithmen rekrutieren

Veröffentlicht am 03.05.2019 von Svenja Hofert - Bildquelle: GettyImages
Wenn Algorithmen rekrutieren

HR-Abteilungen haben immer mehr Möglichkeiten, Auswahlprozesse von Kandidaten zu automatisieren. Doch das kann Kollateralschäden mit sich bringen.

Glauben Sie immer noch daran, dass ein Motivationsschreiben Wunder wirken kann? Dabei wird es – vor allem in Grossunternehmen - kaum mehr gelesen, erst recht nicht von Menschen. Stattdessen werden Sie analysiert, Ihre Persönlichkeit wird per Robo-Recruiting vermessen. Schon Online-Formulare, wie sie schon seit mindestens 15 Jahren flächendeckend in Gebrauch sind, erlaubten Automatisierung frei nach dem Muster: „Wer keinen Master hat, fliegt raus.“ Das nennt sich Negativselektion. Jetzt sind Computer auch bei der Positivselektion im Spiel. Sie entscheiden also mit, wer eingestellt wird. Doch die meisten verstehen gar nicht, was da zwischen IT und HR passiert.

Es geht immer um Effizienz
„Robo-Recruiting“ heisst der Trend, wonach künstliche Intelligenz Teile oder gar den gesamten Auswahlprozess unterstützt. Dabei gibt es zwei Richtungen, die sich stark unterscheiden:

  • Effizienz als Verbesserung der Kommunikation mit dem Bewerber durch Chatbots, also Nutzung von Software, die meist mit dem Messenger-Prinzip à la Facebook agiert. Das sieht der Bewerber und kommt ihm zugute.
  • Effizienz durch Automatisierung der Auswahl von Bewerbern mit Hilfe künstlicher Intelligenz (Negativ- und Positivselektion). Das ist der wesentlich weniger transparente Bereich. Was da passiert, ahnt der Bewerber nicht mal. Es läuft seinen Bedürfnissen entgegen – und oft auch dem Recht.

Bei der Bewerberauswahl sind die Vorteile des Robo-Recruitings allein auf der Seite des Unternehmens. Man darf sich da keinen Illusionen hingeben: Der Einsatz dieser Technologien beruht allein auf Automatisierungsgedanken. Übrigens ist Robo-Recruiting ein irreführender Begriff, denn mit Robotern hat das alles nichts zu tun. Bisher geht es lediglich um Datenanalysen und Algorithmen – nicht um menschenähnliche Maschinen, die Gespräche führen, also den Personaler aus Metall.

Nehmen wir als Beispiel die Software „Precire“, die anhand einer Sprachprobe von wenigen Minuten ermittelt, ob sich ein Bewerber für einen Job eignet oder nicht. „Precire“ fragt beispielsweise nach einem idealen Sonntag. Sind ausreichend Sprachproben gesammelt, analysiert es die Sprachstruktur und die Intonation – nicht den Inhalt. Die Frage nach dem idealen Sonntag ist also austauschbar. Dass Sprachstrukturen viel über das „Mindset“ aussagen, ist nichts Neues. An der Art wie Menschen Sätze bauen, erkennt man ihr Denken – weniger daran, was sie sagen.

Dumm nur, wenn der Bewerber eine Absage bekommt, obwohl er passen würde. Diagnosen wie „Bewerber ist wenig dominant“ dienen eher der Zustandsfestschreibung als dass sie persönliche Entwicklung fördern. Wenn einer Person von Precire zugeschrieben wird, wenig Dominanz zu haben und dies für die Führungskarriere als relevant vorausgesetzt wird, könnte sie mit dieser „Diagnose“ die nächsten Jahre stigmatisiert sein und weitere Entscheidungen auf dieser Basis treffen. Ich hatte oft Kunden, die mit solchen – im schlimmsten Fall nahezu willkürlichen – Zuschreibungen im Kopf eher gebremst als gefördert worden sind. Denn Auswertungsgespräche werden – wenn überhaupt – oft von wenig vorgebildeten Personalfachleuten oder Führungskräften geführt, die das Testergebnis ebenso für bare Münze halten. Was es aber bräuchte, wäre eine konstruktivistische Grundhaltung: Die Interviewer müssen sich bewusst sein, dass er es mit einem Konstrukt zu tun hat. Alle anderen werden nach Beweisen zur Selbstbestätigung suchen.

Gefährliche Prognosen
Es ist heikel, durch Daten von gestern Prognosen von Morgen erstellen zu wollen. Jeder, der sich mit Persönlichkeitspsychologie beschäftigt weiss, dass diese immer nur das Individuum betrachtet, vielleicht seine Einflussgrössen durch Erziehung, Bildung und andere Faktoren, kaum aber durch wechselnde Kontexte. Die Prognosekraft von Eigenschaften ist gering – der Mensch verhält sich je nach Situation und Kontext immer wieder anders. Hinzu kommt: Dominanz wie auch andere Eigenschaften sind keine unabwendbaren Schicksale. Neugier lässt sich erlernen, wir können auch milder werden und kooperativer. Entwicklungen wie Precire aber schubladisieren Bewerber, ohne dass diese sich dagegen wehren können.

Diese ganzen Entwicklungen brauchen Menschen, die durchschauen und verstehen, die in Frage stellen und sich nicht selbst bestätigen. Derzeit soll die künstliche Intelligenz in Rekrutierungsprozessen die Personalauswahl effizienter machen. In Zukunft sollten die moralischen Gründe mitgedacht werden: Welche Folgen hat das für Menschen? Da ist ohne Frage mehr Politik und weniger Wirtschaft gefragt.