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Teilzeit muss sein

Veröffentlicht am 17.06.2017
Teilzeit muss sein
Firmen, die Jobs explizit nur zu 100 Prozent ausschreiben, haben eine Entwicklung verpasst – und lassen sich fähige Kandidaten entgehen.
 
Von Manuela Specker
 
Mirko ist ein gefragter Mann in der Architekturbranche. Mehrfach ausgezeichnet, extrem schnell und mit einem geübten Auge für klassische und funktionale Ästhetik ausgestattet.  Seit mehreren Jahren schon arbeitet er ausschliesslich 80 Prozent. Er würde das auch tun, wenn er nicht Vater eines dreijährigen Sohnes wäre. Denn, so wurde ihm in all diesen Jahren gewahr, die dazu gewonnene Freizeit ist mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen.
 
So wie Mirko ergeht es immer mehr Arbeitnehmenden. Einmal auf den Geschmack gekommen, wollen sie nicht mehr Vollzeit arbeiten, sofern es die finanziellen Verhältnisse erlauben. Aber Fachkräfte-Mangel hin oder her: Noch immer sind zahlreiche Jobs ausschliesslich zu 100 Prozent ausgeschrieben – nicht nur solche mit Führungsaufgaben. Das ist natürlich das gute Recht der Firmen. Nur bleibt bei dieser strikten Anforderung nach Vollzeit unberücksichtigt, dass der fähigste Kandidat allenfalls unter den Teilzeitlern zu finden ist, den die Firma aber wegen der expliziten Ausschreibung des Pensums zu 100 Prozent nie zu Gesicht bekommen wird.
 
Unternehmen, die bei der Stellenausschreibung in Bezug auf das Pensum flexibel sind, haben auf dem Rekrutierungsmarkt die besseren Chancen. Bei den SBB zum Beispiel werden mittlerweile die meisten Stellen mit „80 bis 100 Prozent“ ausgeschrieben und wo immer möglich auch mit tieferen Pensen.
 
Nicht nur die Erfahrungen bei den SBB zeigen: Wenn Teilzeit auch in Leitungspositionen kein Tabu mehr ist, sinkt die Akzeptanz von reduzierten Pensen kontinuierlich. Auch die Führungskräfte in Teilzeitpositionen profitieren. Wirtschaftspsychologen der Universität Trier kamen nach einer Umfrage unter Personalverantwortlichen und betroffenen Mitarbeitenden zum Schluss, dass Führen in Teilzeit nicht nur dazu beiträgt, Beruf und Familie besser zu vereinbaren, sondern dass dies auch positive Effekte auf die Gesundheit hat und überdies den Frauenanteil in Führungspositionen erhöht.
 
Übers Ganze gesehen ist in den vergangenen Jahren der Anteil an Teilzeit-Mitarbeitenden kontinuierlich gestiegen. Waren es 1991 knapp 25 Prozent, die zu weniger als 90 Prozent beschäftigt waren, betrug dieser Anteil im Jahr 2016 gemäss Bundesamt für Statistik 36,5 Prozent. Diese Zunahme darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Arbeitnehmende in keiner Situation ein Anrecht auf Pensenreduktion haben. Eben erst wurde im Nationalrat eine Initiative verworfen, die es Arbeitnehmenden ermöglich hätte, nach der Geburt eines Kindes das Pensum um 20 Prozent zu reduzieren.
 
Das ist in der Tat für viele Männer nach wie vor ein Problem, während Teilzeit vor allem bei Frauen verbreitet ist. Gegenwärtig gehen 6 von 10 erwerbstätigen Frauen, aber nur 1,7 von 10 Männern einer Teilzeitarbeit nach. Gemäss einer Studie von Pro Familia aus dem Jahr 2010 würden neun von zehn Männern gerne Teilzeit arbeiten. Das Projekt „Teilzeitmann“ arbeitet gezielt darauf hin, diesen Anteil der Männer bis ins Jahr 2020 auf 20 Prozent zu erhöhen.
 
Bei der Frage nach Teilzeit geht es allerdings nie nur um reine Zahlen. So befürchten Arbeitnehmende zu Recht, dass sie bei einer Pensenreduktion dieselbe Arbeit für weniger Lohn erledigen müssen, oder dass sie in ihrer neu gewonnenen Freizeit zumindest erreichbar sein müssen. Es ist deshalb zwingend, mit den Vorgesetzten die konkrete Umsetzung zu besprechen. Letztlich geht es immer um einen Kompromiss zwischen betrieblichen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen.
 
Arbeitgeber wiederum scheuen den höheren Koordinationsaufwand. Es gibt zweifellos Jobs oder Situationen, die eine volle Präsenz erfordern. Abgesehen von diesen Fällen ist das krampfhafte Festhalten an 100 Prozent aber oft Ausdruck von Gewohnheiten oder Vorurteilen – oder der Angst, die Kontrolle über die Mitarbeitenden zu verlieren. Verschiedene Untersuchungen weisen allerdings nach, dass Teilzeitmitarbeitende weniger fehlen, dass sie dem Arbeitgeber länger treu sind und eine höhere Produktivität als Vollzeitmitarbeitende an den Tag legen.
 
 

Bildquelle: Thinkstock