«Die Schlechten bleiben» - myjob.ch
985 Artikel für deine Suche.

«Die Schlechten bleiben»

Veröffentlicht am 14.10.2012
Die Schlechten bleiben - Martin Wehrle - myjob.ch
Der Karriereberater Martin Wehrle über die fatalen Folgen falscher Sparwut in Unternehmen. - von Manuela Specker -
Herr Wehrle, Sie beschäftigen sich als Karriereberater mit dem täglichen Wahnsinn, der sich in Firmen abspielt. Welches ist eine der haarsträubendsten Geschichten, die Ihnen zugespielt wurden?

Martin Wehrle: Ein Mann erfuhr aus der Zeitung von einer Bombendrohung, welche die Firma betraf, in der seine Frau arbeitet. Er wunderte sich, warum sie ihm nichts davon erzählt hat. Wie sich dann herausstellte, konnte sie es gar nicht wissen. Die Mitarbeitenden wurden nicht informiert und somit auch nicht evakuiert. Die Verantwortlichen gingen davon aus, dass es sich nur um einen Scherz handelt, und wollten nicht unnötig Arbeitszeit vergeuden. Nur konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen, dass die Drohung nicht wahr gemacht wird. Lieber werden also einige hundert Menschenleben riskiert, als Arbeitszeit zu verlieren. Das zeigt deutlich, wie sehr Mitarbeitende als Ware, als Kostenfaktor betrachtet werden.

Wenn es ums Sparen geht, scheinen in einigen Firmen die Sicherungen durchzubrennen?

Das Verrückte ist ja, dass gewisse Sparmassnahmen nicht nur Motivationen zerstören, sondern am Ende Mehrkosten verursachen. Ein tragisches Beispiel ist jene Firma, die ihre Mitarbeitenden dazu anhielt, fehlerhafte Ausdrucke doppelseitig zu bedrucken, statt diese zu entsorgen; es wurde ein sogenannter Entwurfsdrucker eingeführt. So bekamen die Mitarbeitenden immer wieder Vertrauliches zu Gesicht, wie die Abmahnung eines Kollegen oder die Weihnachtsrede des Chefs, die er erst in drei Monaten halten sollte. Das ist peinlich für die Firma und kostet Arbeitszeit, da es sich die Mitarbeitenden mit der Zeit zu einem Sport gemacht haben, das bedruckte Papier auf solche Indiskretionen abzusuchen.

Bei den Beispielen in Ihrem neuen Buch, der Fortsetzung von «Ich arbeite in einem Irrenhaus», könnte es sich auch um einmalige Ausrutscher handeln. Was macht Sie so sicher, dass der Büroalltag vielerorts vom Irrsinn durchsetzt ist?

Mein erstes Buch hat sich über 200 000-mal verkauft, und ganz offensichtlich konnten sich viele Menschen damit identifizieren. In ein solches Buch schaut man nicht rein wie in Reiseliteratur, sondern wie in einen Spiegel. Viele meiner Klienten sahen sich bestätigt, und als Karriereberater kriege ich den Irrsinn aus den Gesprächen mit meinen Klienten direkt mit. Natürlich gibt es vernünftige Firmen mit einer Unternehmenskultur, die wirklich den Menschen ins Zentrum stellt – aber es gibt eben auch genug Gegenbeispiele, in denen beispielsweise der Sparwahn bar jeglicher Vernunft ist.

Worauf führen Sie das zurück?

Die Plutokratie und die kurzfristige Gewinnorientierung haben sich in den Firmen wie eine Seuche ausgebreitet, da bleibt die Zufriedenheit der Mitarbeitenden auf der Strecke. Die guten Leute aber, die das Gefühl haben, in einem Irrenhaus zu arbeiten, verlassen eine solche Firma über kurz oder lang. Die Schlechten bleiben – jene also, die es eher schwer haben auf dem Arbeitsmarkt.

Wie erkennt ein potenzieller Mitarbeiter schon im Bewerbungsprozess, dass er sich auf die betreffende Firma besser nicht einlässt?

Es sollte misstrauisch machen, wenn ein Stelleninserat alle paar Monate wieder erscheint – das deutet auf eine misera-ble Personalpolitik oder eine nicht zumutbare Stelle hin. Wenn in der Einladung zum Vorstellungsgespräch vermerkt wird, man müsse die Anreisekosten selber bezahlen, ist dies ebenfalls ein schlechtes Zeichen. Eine solche Firma dürfte gegenüber ihren Mitarbeitenden generell geizig sein. Sehr aufschlussreich ist das Vorstellungsgespräch. Haben sich die Verantwortlichen nicht darauf vorbereitet und kennen nicht einmal den Lebenslauf, ist dies Ausdruck von Verachtung. Ein sehr gutes Indiz ist auch der Umgang untereinander. Wenn die Sekretärin, die den Kaffee bringt, nicht einmal eines Blickes gewürdigt wird, dann sieht man wohl schon die Spitze des Eisbergs Irrsinn.

Eines der Hauptprobleme scheint zu sein, dass sich das Wissen und die Arbeitsmethoden fortlaufend entwickeln, nicht aber die Bedingungen hierfür. Die Bürokratie spielt jedenfalls in vielen der Geschichten, die Ihnen von Angestellten zugetragen werden, eine Hauptrolle.

Es ist in der Tat so, dass Mitarbeitende heute schneller und effizienter arbeiten und entscheiden müssen, doch zugleich sind sie in das Korsett der Bürokratie eingespannt. Paradebeispiel ist eine Firma, die Kopierkarten einführte. So erhielt sie die Kontrolle, wer wie viel kopierte – ein Misstrauensvotum, das bei Angestellten natürlich nicht gut ankommt. Zudem hatte diese Massnahme einen enormen Mehraufwand zur Folge. Es kam immer wieder vor, dass Mitarbeitende die Karte im Kopierer vergassen, sodass nachfolgende Kollegen auf ihre Kosten kopierten. Ein betroffener Mitarbeiter, ein gut ausgebildeter und gut bezahlter Ingenieur, erhielt sogar den Auftrag abzuklären, wer alles seine Karte benutzte. In ihrem Spar- und Kontrollwahn sehen manche Firmen einfach nicht mehr, welchen Schaden sie anrichten.

Martin Wehrle: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus. Verlag Econ, 2012.