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Der gläserne Mitarbeiter

Veröffentlicht am 21.04.2018 von Manuela Specker - Bildquelle: Thinkstock
Der gläserne Mitarbeiter

Die Überwachungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz sind schier unbegrenzt. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?

Seit über 20 Jahren arbeitet Markus W. im Aussendienst eines Waschmaschinen-Herstellers. Seit einiger Zeit aber fühlt er sich massiv unter Druck. Die fix in den Fahrzeugen installierten GPS ermöglichen es dem Arbeitgeber, so gut wie jeden Schritt ihrer Mitarbeitenden zu überwachen. Wie lange dauert die Fahrt zum Kunden? Wieviel Zeit brauchen sie für die Reparatur? Als Markus W. letzthin im Stau stand und doppelt so lange brauchte, bis er vor Ort war, musste er sich ein paar Tage später tatsächlich beim Vorgesetzten rechtfertigen und ihm erläutern, dass er in ein Verkehrschaos geraten war.

Auch am Arbeitsplatz selber haben sich durch den fortwährenden Datenstrom von Computern, Tablets und Mobiltelefonen zahlreiche neue Kontrolloptionen ergeben. Software kann Mails und Terminkalender von Mitarbeitenden durchforsten und analysieren, womit sie ihre Zeit verbringen. Auch Emotionen können mittlerweile erfasst werden: Stimmerkennungssoftware ist in der Lage, die eigene Befindlichkeit ausfindig zu machen und festzustellen, mit welcher Einstellung man mit jemandem kommuniziert.

Theoretisch wäre es sogar möglich, dass der Arbeitgeber mittels Iris-Scan erfährt, ob man übermüdet zur Arbeit erscheint. Ein Horror-Szenario, dem zumindest rechtlich noch Riegel geschoben sind, aber „technisch lässt sich der gläserne Mitarbeitende heute ohne grosse Kosten erschaffen “, bringt der Soziologieprofessor Steffen Mau in seinem Buch „Das metrische Wir“ die Kluft zwischen technologischer Machbarkeit und rechtlicher Erlaubnis auf den Punkt. Die bisherigen Entwicklungen zeigen: was technisch machbar ist, wird irgendwann auch gemacht.  Verschiedene Anbieter entsprechender Technologien würden schon heute darauf warten, dass in einem nächsten Schritt die Dauermessung von Körpertemperatur und Puls möglich ist, um den Arbeitnehmer optimal „einzustellen“.

Aber es braucht nicht einmal ein ausgeklügeltes Überwachungssystem in einer rechtlichen Grauzone, sondern die Kontrolle ist oft unmittelbar in den Arbeitsprozess integriert, wie Steffen Mau betont. Das gilt zum Beispiel auch für Mitarbeitende, die mit portablen Endgeräten Waren scannen und bei Kunden ausliefern. Auf diese können Leistungsindikatoren einfach mit Zahlen unterlegt werden: Wo befindet sich der Mitarbeiter? Wie viele Artikel verarbeitet er in welcher Zeit?

Ein Arbeitgeber ist auch nicht auf Soft- oder Hardware angewiesen, um seine Mitarbeitenden zu überwachen. Die digitalen Vermittlungsplattformen, die Anbieter und Kunden zusammenbringen, machen es vor: Nur wer gut bewertet wird, kann überhaupt mit Aufträgen rechnen, sonst ist man schnell weg vom Fenster. Dumm nur, dass längst nicht jede Bewertung sich an vermeintlich objektiven Kriterien misst. Der Ruf ist also schnell ruiniert – entsprechend schwierig wird es, sein Business aufrecht zu erhalten. „Unter diesen Vorzeichen entsteht im Dienstleistungsbereich eine raffinierte Kontrollmaschinerie, die auch deshalb so effektiv ist, weil man nie weiss, ob man gerade kontrolliert wird“, so Steffen Mau.

Der Unternehmensberater Reinhard Sprenger spricht von einer „tyrannischen Zudringlichkeit“. Auch er stellt fest, dass Mitarbeitende zu allem möglichen befragt und vermessen werden. Diese Bevormundung sei aber weder betriebswirtschaftlich noch moralisch gerechtfertigt. Wohin das führt, ist für ihn klar: zu Gleichmacherei und Konformität. Auf der Strecke bleiben aber auch so hoch gehaltene Werte wie Teamgeist oder Mitmenschlichkeit, die der Produktivität oft am meisten dienen würden – statt dass Mitarbeitende in einer „jeder gegen Jeden“-Atmosphäre arbeiten. Denn wo die Arbeitsleistung der Mitarbeitenden so intensiv vermessen wird, geht es immer auch darum, besser als der Durchschnitt abzuschneiden. Auf die Spitze wird das laut Steffen Mau von Unternehmen wie Amazon getrieben, die interne Rankings erstellen, auf dessen Grundlage dann die Entlassungen oder die Beförderungen gesprochen werden. Das kann man als kompetitive Unternehmenskultur sehen, aber eben auch als eine Art sozialdarwinistische Auslese.

Der Crux an der Sache: Alle diese Kontrollmassnahmen erhöhen nicht zwangsläufig die Produktivität. Oft unterschätzt wird nämlich der damit verbundene Mehraufwand. Die Digitalisierung hat massgeblichen Anteil an der fortschreitenden Bürokratisierung der Arbeitswelt, in der es immer weniger um die Arbeit an und für sich geht, sondern darum, Kennzahlen im Sinne der Kontrolle, Rechenschaft und Transparenz zu liefern. Dabei sind diese Zahlen nie neutral. „In Zahlen sind immer schon Vorentscheidungen darüber enthalten, was als relevant, wertvoll oder massgeblich gelten soll“, so Steffen Mau.