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Wenn Schreiben zur Tortur wird

Veröffentlicht am 19.08.2017
Wenn Schreiben zur Tortur wird
Eine Lese- und Schreibschwäche kann den Job zur Hölle machen. Welche Auswege gibt es?
Von Manuela Specker
 
Lesen und Schreiben zu können ist für die meisten eine Selbstverständlichkeit. Was dabei gerne vergessen geht: In der Schweiz gelten rund 800`000 Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren als Illettristen. Das heisst, es fehlt ihnen trotz obligater Schulbildung die notwendige Lese- und Schreibkompetenz, um problemlos den Alltag zu bewältigen, geschweige denn, um im beruflichen Umfeld zu bestehen. Etwa 40 Prozent der Betroffenen sind Schweizer und 60 Prozent ausländischer Herkunft. Die einen kämpfen mit der Grammatik, andere stehen mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuss, sie verwechseln Buchstaben – oder sie sind ganz einfach nicht in der Lage, die wichtigen Informationen aus einem Text herauszufiltern. Illettrismus hat viele Gesichter und Ausprägungen. 
 
Problematisch für Betroffene ist, dass es kaum mehr Berufe gibt, in denen Lese- und Schreibkompetenzen irrelevant sind. Ob Anweisungen zur Bedienung einer Maschine, ob Lieferscheine, die ausgefüllt werden müssen oder Rapporte, die es zu verfassen gilt: früher oder später sind Illettristen damit konfrontiert, dass sie schreiben müssen.
 
Bis anhin galten zumindest körperlich anstrengende Hilfsjobs als „schreibfreie“ Zone. Eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung macht allerdings die Tendenz aus, dass Arbeitnehmende auch in solchen Berufen immer mehr lesen und schreiben müssen. Für ihre Studie haben die Forscher fünf Betriebe im Schienenverkehr untersucht. Hier sind es zum Beispiel schriftliche Arbeitsanweisungen, die Illettristen vor Probleme stellen. Nicht zu unterschätzen sind auch Dokumentationszwänge: So müssen Reinigungs- und Servicekräfte vermehrt in der Lage sein, Berichte zu erstellen oder Kundenbeschwerden zu notieren.

Alleine die heutige Selbstverständlichkeit des schriftlichen Austauschs per E-Mail erfordert minimale Schreibkompetenzen. Die latente Erwartungshaltung, dass E-Mails schnell gelesen und entsprechend schnell beantwortet werden müssen, macht die Sache auch nicht einfacher: die heutige Informationsflut kann für Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche eine Tortur sein. Nicht selten sind sie von Schuld- und Schamgefühlen geplagt.   

So finden sie allerlei Ausweichmanöver, um nicht aufzufliegen: Sie klären alles telefonisch ab, sie bitten jemand anderen, die Schreibarbeit zu übernehmen, oder nehmen sie mit nach Hause, sie haben gerade kein Schreibzeug dabei oder die Brille vergessen. Weiterbildungen stehen in dieser Situation erst recht nicht zur Debatte – und so nimmt der Teufelskreis seinen Lauf. Noch immer fürchten viele Illettristen, dass sie für weniger intelligent gehalten werden, obwohl dies nachweislich keine Frage der Intelligenz ist. Ein Grund für die Lese- und Schreibschwäche kann Dyslexie bzw. Legasthenie sein, eine angeborene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten. Legastheniker können Klang und Buchstaben nicht richtig miteinander verbinden.   
 
Die gute Nachricht: mit entsprechenden Kursen und Unterstützung des Umfeldes können sich Betroffene stark verbessern. Untersuchungen in Grossbritannien haben gezeigt, dass vor allem die Form des lauten Denkens und Vorführens bei Menschen mit Illettrismus wirksamer ist als normaler Frontalunterricht. Bereits sehr hilfreich ist, dass in passenden Kursen explizit auf ihre Defizite eingegangen wird und sie sich nicht wie früher in einer Klasse beweisen müssen, in der die anderen das Lesen und Schreiben beherrschen. Parallel dazu wächst auch das Selbstvertrauen. Und das ist bitter notwendig, denn: Illettristen sind nicht nur in der Berufswahl eingeschränkt, sie verlieren auch häufiger die Stelle.
 
Betroffenen wird auf jeden Fall empfohlen, das Heft in die eigenen Hände zu nehmen und entsprechende Hilfsangebote zu nutzen (siehe Kasten). Denn auch im privaten Bereich können die Folgeprobleme gross sein. So kommt es immer wieder vor, dass Illettristen bei den Steuern viel zu hoch eingeschätzt werden, weil sie nie eine Steuererklärung eingereicht haben. Oder sie nehmen ihre Rechte nicht wahr, weil dies einen schriftlichen Austausch mit Behörden verlangt oder weil sie nicht verstehen, dass sie sich gegen einen Entscheid mit einer Einsprache wehren können.
 

Hilfsangebote
Eine wichtige Anlaufstelle ist der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben: www.lesenschreiben.ch (unter „Kurse“ sind die Weiterbildungen in den verschiedenen Kantonen aufgelistet). Unter der Gratisnummer 0800 47 47 47 kann man sich zudem zu den Angeboten des Dachverbandes beraten lassen.

Auch auf der Homepage www.lesenlireleggere.ch lassen sich entsprechende Kurse finden.

www.verband-dyslexie.ch


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