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Das Leiden der Pendler

Veröffentlicht am 16.09.2017
Das Leiden der Pendler
Lange Arbeitswege können belasten. Aber was sind die Alternativen?
Von Manuela Specker
 
Das Pendeln hat einen schlechten Ruf. Untersuchungen legen nahe, dass ab einer Pendeldauer von 45 Minuten pro Weg die Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Erhöhter Blutdruck, Essstörungen, Magen-Darm-Beschwerden, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen: die Beschwerden äussern sich auf vielfältige Weise. Steffen Häfner, der sich als Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie intensiv mit den gesundheitlichen Folgen des Pendelns auseinandergesetzt hat, schätzt, dass bei 10 bis 15 Prozent der psychosomatischen Erkrankungen heute der Arbeitsweg eine grosse Rolle spielt.
 
Wie ist es möglich, dass ein Arbeitsweg dermassen auf die Gesundheit schlagen kann? Oder anders gefragt: Was entscheidet, ob jemand mit dem Pendeln klarkommt oder eben nicht?  Wie so oft ist es eine Kombination verschiedener Faktoren: Wegen des langen Arbeitsweges sammelt sich bei Pendlern eher ein Schlafmanko an, oft fehlt ihnen die Zeit für Sport, und je nach Dauer, die sie unterwegs sind, vernachlässigen sie zwangsläufig das soziale Umfeld. So mancher Pendler kann ein Lied davon singen: wer abends nach Hause kommt, will oft seine Ruhe, schliesslich muss er am nächsten Morgen wieder früh aufstehen.
 
Einen grossen Einfluss, ob und wie sich das Pendeln auf die Gesundheit auswirkt, hat die Frage der Freiwilligkeit. Wer sich den Traum vom Eigenheim im Grünen verwirklichen kann und dafür eine lange Pendelstrecke in Kauf nimmt, hat weniger Mühe mit der Situation als jemand, der keine andere Wahl hat. Pendeln ist eben immer auch eine Frage der Einstellung – und diese wiederum ist stark vom Jobumfeld geprägt. Bei einer unbefriedigenden Jobsituation schlägt natürlich das Pendeln stärker aufs Gemüt.
 
Pendeln ist aber nicht gleich Pendeln. Gerade wer sich mit dem Zug fortbewegt und nicht ständig umsteigen muss, kann die Situation zu seinen Gunsten nutzen und zum Beispiel eine Fremdsprache erlernen oder in dieser Zeit abschalten, sei es mit Musik oder mit Lektüre. Glück haben all jene, die mobil arbeiten und sich die Zeit anrechnen lassen können. Steffen Häfner empfiehlt auf jeden Fall, nach Möglichkeit die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Denn so hat man in der Regel auch mehr Bewegung, als wer mit dem Auto von Tür zu Tür fährt. Laut Häfner leiden Mitarbeiter, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, mehr unter Übergewicht. Bei Autopendlern konnte nachgewiesen werden, dass jene mit einer langen Fahrzeit eher zu Adipositas tendieren. Das ständige Sitzen ist zudem Gift für die Wirbelsäule. ÖV-Pendler wiederum laufen eher Gefahr, sich eine Infektionskrankheit wie eine Erkältung oder eine Grippe einzufangen, da sie den Keimen viel stärker ausgesetzt sind. 
 
Velofahrer gelten übrigens als die zufriedensten Pendler. Sie haben nicht nur genügend Bewegung, sondern sind jederzeit Herr ihrer Pendelsituation, während Zugreisende mit Verspätungen und Autofahrer mit Stau rechnen müssen. Das sind in der Tat die Situationen, welche das Fass zum Überlaufen bringen können – gerade bei Erwerbstätigen, die sowieso schon lange unterwegs sind. Untersuchungen belegen sogar: Wer auf dem Arbeitsweg mit dem Auto überraschend in einen Stau gerät, weist einen ähnlichen Stresspegel auf wie ein Kampfpilot im Einsatz.
 
  
Besser pendeln
 
Entspannung an der Pendlerfront ist nicht in Sicht. In der Schweiz pendeln mittlerweile 3,9 Millionen Erwerbstätige, etwa jeder Zehnte nimmt einen Arbeitsweg von über einer Stunde auf sich. Das hat zum einen zu tun, dass das Wohnen in der Stadt, wo sich viele Jobs konzentrieren, teurer geworden ist und freie Wohnungen Mangelware sind. Zum anderen ist es heute üblich, dass in einer Partnerschaft beide berufstätig sind. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass in einem gemeinsamen Haushalt jemand lange Wege in Kauf nehmen muss.
 
Wer weder zügeln noch den Job wechseln will, sollte sich das Pendeln so angenehm wie möglich gestalten. Dazu gehört, Pendelspitzen nach Möglichkeit zu umgehen (sofern die Firma Gleitzeit oder sogar Home Office anbietet), bei Zugfahrten den leicht längeren Weg zu wählen, wenn man dafür nicht umsteigen und sich einen neuen Sitzplatz suchen muss, sowie Bewegung in die Pendelstrecke zu bringen: Warum nicht zumindest eine Teilstrecke zu Fuss oder mit dem Fahrrad absolvieren? Massgebend für die Gesundheit ist eben nicht unbedingt die effektive Pendeldauer, sondern wie diese genutzt werden kann.
 
 
Bildquelle: Thinkstock