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Plädoyer für das Warten

Veröffentlicht am 21.10.2017
Plädoyer für das Warten
Vor lauter digitalen Innovationen und Karrieremöglichkeiten gerät eine alte Tugend unter die Räder: das Warten. Warum es sich gerade in diesen Zeiten auszahlt.  
Von Manuela Specker
 
Es gibt Unternehmen, in denen Jahr für Jahr kein Stein auf dem anderen bleibt. Eine Reorganisation jagt die nächste, Produkte werden laufend optimiert, alle Social-Media-Kanäle zur Imageförderung ausgereizt. Mitarbeitende wiederum werden in einem solchen Umfeld animiert, selber ständig Veränderungen anzustossen und Karriereoptionen zu prüfen. Wer will denn schon als passiv und als Bewahrer oder Zauderer gelten? Das sind Charaktereigenschaften, die aus einer vergangenen Arbeitswelt entsprungen scheinen, als Digitalisierung noch ein Fremdwort war. Heute sind alle irgendwie schwer beschäftigt – deshalb auch die unzähligen Meetings und überquellenden E-Mail-Postfächer. 
 
Doch dieser grassierende Hyperaktionismus basiert auf einer grossen Illusion: Wer nichts unternimmt, so der tief verankerte Glauben, verliert die Kontrolle über das Geschehen. Etwas zu tun hingegen vermittelt das Gefühl, der Situation nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Hinzu kommt, dass Führungskräfte unter Druck stehen, ihre Rolle zu rechtfertigen. Der Manager als Macher gilt als Ideal – und nicht der, der eine schwierige Situation einfach mal aussitzt. So wird das Handeln selber zur Therapie, ungeachtet der Tatsache, ob die Lösungen durchdacht sind oder nicht.

"In vielen Fällen ist aber kluges Abwarten und Nichtentscheiden der bessere Weg", meint Holm Friebe, Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur. Er hat sich unter anderem mit seinem Buch "Die Stein-Strategie - Von der Kunst, nicht zu handeln“ als Experte des stoischen Ausharrens und des Wartens auf den richtigen Augenblick hervorgetan. Mit der „Stein-Strategie“ nimmt er die Management-Literatur aufs Korn, die im Tierreich allerhand Vorbilder auszumachen scheint und so verheissungsvolle Titel produziert wie das „Pinguin-Prinzip“, die „Kakerlaken-Strategie“ oder die „Mäuse-Strategie“.

Was wir von Steinen lernen können? Sie würden sich auch nicht täglich neu als Schmetterlinge oder Blumen erfinden – und sich trotzdem im Flussbett ständig bewegen. Das ist zugleich als Kritik am Innovationshype zu verstehen. Gerade mit der Digitalisierung wird bisweilen der Eindruck erweckt, neue Technologien würden ständig und überall alles umpflügen. Alle haben das Gefühl, sie müssen Hypes hinterher hecheln, um nicht vom Markt gefegt zu werden. Doch Holm Friebe ist überzeugt: „Wir überschätzen den kurzfristigen Einfluss von neuen Technologien und unterschätzen den langfristigen“, so Holm Friebe. Unterschätzt wird auch der Wert von Altbewährtem – Kunden wollen sich nicht ständig an neue Produkte gewöhnen.

Einfach mal nichts zu tun ist gerade in der heutigen Beschleunigungsgesellschaft eine Option, die oft übersehen, ja nicht einmal in Betracht gezogen wird. Holm Friebe will seine propagierte Strategie des Abwartens und Aussitzens aber nicht als Rechtfertigung für Faulpelze und Prokrastinierer verstanden wissen. Es gehe vielmehr darum, warten zu können, wenig zu tun – und das Wenige aber mit durchschlagender Wirkung. Gerade komplexe Systeme seien nicht einfach so steuerbar. Nur schon deshalb würde es sich oft mehr auszahlen, mit ruhiger Hand zu agieren anstatt Schnellschüsse zu produzieren. Die Realität schaut freilich anders aus: Unter Managern, Politikern und Anlegern dominiert die Aktionitis.
 
Warten lohnt sich
 
Zahlreiche Beispiele zeigen immer wieder von Neuem, dass Abwarten oft die bessere Devise ist:
 
An den Aktienmärkten: Wer ständig kauft und verkauft, fährt in der Regel schlechter als jene, die ihre Papiere halten. Es gibt wohl kein berühmteres Beispiel als Warren Buffet: Die Strategie des Abwartens machte ihn zu einem der erfolgreichsten Investoren der Welt. 
 
In Notlagen: Dieser Ratschlag ist in nahezu allen Survival-Ratgebern nachzulesen: Wer die Orientierung verliert, hat die grösseren Überlebenschancen, wenn er an Ort und Stelle bleibt und dort auf Hilfe wartet oder Hilfe auslöst, anstatt die Kräfte zu verbrauchen und weiter herum zu irren. Also lieber die Kräfte schonen und darauf vertrauen, dass nach einem gesucht wird. 
 
Im Tor: Statistisch gesehen sollte sich ein Torhüter weder nach links noch nach rechts werfen, sondern in der Mitte stehen bleiben. Trotzdem wird diese Variante kaum praktiziert: Bleibt der Torhüter stehen, erweckt er den Eindruck, frühzeitig kapituliert zu haben. Springt er in die falsche Ecke, sieht es danach aus, als hätte er einfach Pech gehabt.
 

Bildquelle: Thinkstock