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Arbeit wird zur Nebensache

Veröffentlicht am 06.01.2018 von Manuela Specker
Arbeit wird zur Nebensache

Die Verbürokratisierung schreitet unaufhaltsam voran, indem Mitarbeitende zunehmend kontrolliert und vermessen werden. Doch das ist oft kontraproduktiv. 

Eine beängstigende Entwicklung hat die Arbeitswelt erfasst. Sie findet natürlich nicht in jeder Firma statt, aber die Tendenzen sind unverkennbar:  Dort, wo Mitarbeitende an der Front wirken, wo sie ganz konkret eine Aufgabe mit sichtbarem Resultat erledigen, wird Personal eingespart und die Zitrone weiter ausgepresst. Weiter oben aber, wo vor allem Sitzungen anstehen, Prozesse durchleuchtet und Entscheidungen gefällt werden, findet ein sukzessiver Ausbau statt. Der Ethnologe David Graeber macht dies in seinem Buch „Bürokratie“ am Beispiel einer Teefabrik deutlich: Jahrelang, so erläuterte ihm ein Arbeiter, habe es mit dem Chef und dem Personalleiter nur zwei leitende Manager gegeben. Als der Gewinn stieg, tauchten immer mehr Herren in Anzügen auf, allesamt mit wohlklingenden Titeln. Nur: Sie hatten fast nichts zu tun, weshalb sie vor allem Arbeiter beobachteten, Erfassungs- und Bewertungsinstrumentarien entwickelten sowie Pläne und Berichte erfassten.
 
Dieses verdichtete Extrembeispiel zeigt: Die Verbürokratisierung ist nicht etwa eine logische Entwicklung von Arbeitsabläufen, die – auch aufgrund der globalen Wirtschaftskreisläufe – immer komplizierter werden. Sie ist vielmehr oft hausgemacht. Mit anderen Worten: Überall dort, wo Mitarbeitende gemessen und vermessen werden, entstehen immer mehr Jobs, die sich durch eben diese Kontrollfunktion rechtfertigen. Eine Entwicklung, die auch dem Psychoanalytiker Paul Verhaeghe Sorgen macht: „Das System bewirkt, dass dem Kern der Arbeit immer weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird und Verwaltung, Management und Kontrolle immer stärker in den Vordergrund rücken“, schreibt er in seinem Buch “Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“.
 
All diese Kontrollmechanismen sollen angeblich die Effizienz im Betrieb steigern. Aber in Tat und Wahrheit werden Mitarbeitende eher vom Arbeiten abgehalten, und im schlimmsten Fall leiden der Teamgeist und die Loyalität zum Unternehmen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber wenn Angestellte permanent vermessen werden, ist dies immer auch Ausdruck von Misstrauen. Und wer hat wohl mehr Spass bei der Arbeit: Jener Mitarbeitende, der zwischendurch auch einmal mit dem Kunden über Gott und die Welt reden kann, oder jener Mitarbeitende, der dabei auf die Uhr guckt und gestresst ist, durch einen nicht vorhergesehenen Schwatz die geplante Gesprächszeit zu überschreiten und womöglich die Umsatzziele nicht zu erreichen? Keine Frage auch, wer von den beiden Mitarbeitenden eher droht, krank zu werden und auszufallen. Das Effizienzstreben entpuppt sich nicht selten als Bumerang.
 
Paul Verhaeghe spricht vom „Big-Brother-Gefühl“. Wenn Arbeitnehmende ständig mittels Mitarbeitergesprächen, Audits und Ähnlichem evaluiert werden, passen sie ihr Verhalten an und setzen sich nur noch dort ein, wo Messungen dies belegen können oder wo sie kurzfristig profitieren – das ist fatal für Kreativität und Produktivität. Hinzu kommt aber auch, dass die Effizienzbestrebungen nicht automatisch am richtigen Ort ansetzen, im Gegenteil: die permanenten Restrukturierungen finden meist ohne Mitsprache derjenigen statt, welche die eigentliche Arbeit erledigen müssen. Diese Widersprüche bleiben ihnen nicht verborgen: „Alle Mitarbeiter werden ständig ermahnt zu sparen, und gleichzeitig sehen alle, dass enorme Summen für überflüssige Dinge ausgegeben werden. Zum Beispiel Honorare für Berater, die sich einen neuen Namen und einen dazu passenden Slogan ausdenken sollen – den man dann auf keinen Fall wörtlich nehmen darf (Wir sind für Sie da!).“
 
Kurz und gut: Die gegenwärtige Arbeitswelt tendiert zu immer mehr Bürokratie, weshalb den Mitarbeitenden immer weniger Zeit für die Kernaufgaben bleibt und der Arbeitsdruck überall zunimmt. Es ist nicht mal so, dass Paul Verhaeghe Evaluierungen durchs Band ablehnt. „Sie sind zweifellos notwendig, doch bedarf es einer völlig anderen Herangehensweise“. Er empfiehlt qualitative Untersuchungen, in deren Rahmen Beschäftigte zu den verschiedenen Teilaspekten der Arbeit befragt werden. Eine solche Beurteilung würde auch das Verantwortungsgefühl bei den Mitarbeitenden stärken. Der reine Glauben an nackte Zahlen sei fatal: „Wie sie zustande gekommen sind und ob sie auch anders interpretiert werden, fragen wir uns meist nicht.“


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