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Raus aus der Nettigkeitsfalle

Veröffentlicht am 18.10.2015
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Warum es sich lohnt, die eigene Karriere selbstbestimmt in den Griff zu kriegen
Beruflicher Erfolg definiert sich nicht über Aufstieg, Lohn und Arbeitszeit. Trotzdem sitzen viele Menschen diesem Irrtum auf – und reiten zielstrebig ins Unglück.
 
Von Manuela Specker

Eine kleine Portion Glück braucht es für jeden beruflichen Aufstieg, und sei es nur, um im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Aber das eigene Glück hängt keinesfalls vom beruflichen Aufstieg ab. Der dies sagt ist ausgerechnet ein Karriereberater. Einer aber, der schon immer ein anderes Verständnis von Karriere mitgebracht hat. Auch in seinem soeben erschienenen Buch „Sei einzig, nicht artig¨“ lädt Martin Wehrle dazu ein, neue Perspektiven einzunehmen und so der beruflichen Fremdbestimmung zu entfliehen.
 
Ausgerechnet im Job verlieren viele – symbolisch gesprochen - ihr eigenes Leben, lassen sie sich manipulieren, sagen sie Ja, obwohl sie eigentlich Nein meinen. Und das alles nur, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden und sich Statussymbole anzueignen, obwohl doch mittlerweile jeder Hobbypsychologe weiss: Im Sein und nicht im Haben liegt das Glück verborgen.  Martin Wehrle braucht deutliche Worte: „Pfeifen Sie auf darauf, was andere zu Ihrem beruflichen Status sagen.“
 
Die grosse Stärke seines Buches liegt nicht nur darin, dass er mit vielen nachvollziehbaren Beispielen und Übungen arbeitet, die dazu animieren, selbstbewusster für die eigene Individualität einzustehen anstatt mit dem Strom zu schwimmen. Wehrle gräbt tiefer und beantwortet auch die entscheidende Frage, woher der weit verbreitete Hang zur Konformität eigentlich kommt. Es allen recht machen zu wollen ist eine Eigenschaft, die in der Regel mit Kindheitserfahrungen zusammenhängt.
 
Ein Kind, das mit Liebesentzug bestraft wird, wenn es nicht so spurt, wie es sich die Eltern vorstellen, trägt das Verhaltensmuster oft noch als Erwachsener in sich. Diese Einsicht ist nicht als Plädoyer für eine antiautoritäre Erziehung zu verstehen. Martin Wehrle möchte vielmehr bewusst machen, woher unsere Neigung kommt, Ja zur Anpassung und Nein zu den eigenen Träumen zu sagen. Sind diese Zusammenhänge erst einmal erkannt, ist der Weg vorgespurt, dem Lockruf fremder Erwartungen zu widerstehen – anstatt in einem Beruf unglücklich zu werden, den die Eltern für einen vorgesehen zu haben, oder eigene Begabungen verkümmern zu lassen, nur weil einem immer eingetrichtert wurde, handwerklich ungeschickt oder mathematisch unbegabt zu sein.
 
Wer wieder mehr auf seine eigene Stimme hört, durchschaut auch die etlichen Manipulationsversuche im Berufsleben. Zum Beispiel jene der Bereichsleiterin, die immer dann eine Lobeshymne auf bestimmte Mitarbeitende anstimmt, wenn sie eine unliebsame Arbeit loswerden will. Oder der Vorgesetzte, der jemanden ins Ausland entsenden muss und behauptet: „Niemand kommt mit der Mentalität der Asiaten so gut zurecht wie Sie! Ausser Ihnen kriegt das keiner hin!“ Wer fühlt sich da nicht geschmeichelt und möchte die Erwartungen erfüllen?
 
Dabei hat der Chef nur in die Trickkiste gegriffen: Er umgarnt den Mitarbeitenden mit einem Lob, um ihn dann als einzige Lösung des Problems darzustellen. Schön, wenn man tatsächlich nach China will. Was aber, wenn man lieber Zeit mit der Familie verbringen möchte anstatt im Ausland um Aufträge zu kämpfen? Dann hilft ein klares Nein – und der Chef wird sich an jemanden wenden, der das Nein-Sagen weniger gut beherrscht.
 
Viele Arbeitnehmende fühlen sich in solchen Situationen stark unter Druck und fürchten, in der Gunst des Vorgesetzten einige Stufen runterzufallen. Da ist sie wieder, diese alte Angst, externen Ansprüchen nicht zu genügen. Dabei, so zeigt Martin Wehrle auf, werden all jene, die so klar zu ihrer Meinung und ihren Werten stehen, insgeheim bewundert. Im Erkennen und Entwickeln eigener Werte liegt denn auch einer der Schlüssel zu einer höheren Zufriedenheit: „Jede Entscheidung, ob im Berufs- oder im Liebesleben, ob in Finanz- oder Gesundheitsfragen, lässt sich aus Ihren Werten ableiten“, so Martin Wehrle. Wem also Fairness am Herzen liegt, wird von einem Chef nie dazu überredet werden können, einen Kunden zu betrügen. Wem Authentizität wichtig ist, wird sich nicht verbiegen, um Karriere zu machen.
 
Um sich überhaupt an eigenen Werten orientieren zu können,  muss man sich zuerst einmal von fremden Erwartungen lösen und auf sich selber hören. Den Menschen werden nämlich allerlei Flöhe zum Thema „Karriere“ ins Ohr gesetzt. Zum Beispiel, dass mit 50 kein Berufswechsel mehr möglich ist, dass Karriere nichts als Aufstieg heisst und dass ein akademischer Beruf besser sein soll als ein handwerklicher Beruf. „Vergessen Sie all diesen Käse!“, rät der langjährige Karriereberater Martin Wehrle. „Wenn Sie morgens gerne zur Arbeit gehen, ist das schon mal ein sehr gutes Zeichen! Und wenn Sie jetzt noch viele Ihrer Talente bei der Arbeit einsetzen können, etwas Sinnvolles tun und die Menschen um sich herum mögen, dann gratuliere ich Ihnen: Sie haben im Beruf mehr erreicht als mancher Top-Manager!“  
 
((Buchhinweis)) Martin Wehrle: „Sei einzig, nicht artig!“ So sagen Sie nie mehr JA, wenn Sie NEIN sagen wollen. Mosaik Verlag 2015.


Foto: Thinkstock