In der hektischen Arbeitswelt verkommt der Müssiggang zum Kuriosum. Der Preis dafür ist hoch. Von der Arbeit abschalten zu können, ist mittlerweile eine Kunst, die nur wenige nachhaltig beherrschen. Das liegt nicht nur am Leistungsdruck.
- von Manuela Specker -
Paul Lafargue, der französische Sozialist und Schwiegersohn von Karl Marx, postulierte Ende des 19. Jahrhunderts ein «Recht auf Faulheit». Er war der Ansicht, dass drei Stunden Arbeit pro Tag genügen, um das Lebensnotwendige zu produzieren. Diese Vorstellung war im Kontext der Industrialisierung weit verbreitet. Noch 1930 glaubte der Ökonom John Maynard Keynes, dass künftige Generationen mit einer Überfülle an freier Zeit und Musse konfrontiert sein werden.
Es ist bekanntlich anders gekommen. Heute soll die Arbeit nicht nur das Notwendige zum Leben sichern, sie stiftet vielmehr Identität. Da sich zugleich Arbeitstempo und Leistungsdruck verschärft haben, kann es leicht passieren, dass Arbeitnehmende vergessen, zwischendurch auch einmal auf die Bremse zu treten. Die Konsequenzen sind bekannt: Laut einer Untersuchung des Bundesamtes für Statistik geben 40 Prozent der Erwerbstätigen an, unter «Schwäche und Energielosigkeit» zu leiden.
Der prototypische Arbeitnehmer des 21. Jahrhunderts hat die Kunst des Müssiggangs verlernt. Ulrich Schnabel, ein deutscher Wissenschaftspublizist, der um die Vorzüge der Musse weiss, macht auf ein weit verbreitetes Missverständnis aufmerksam. Heute herrsche die Vorstellung vor, sich für Musse besondere Auszeiten ausserhalb des Arbeitsalltags gönnen zu müssen – ein Wellness-Wochenende, Ferien am Strand.
Das werde dann meist noch mit der Hoffnung verknüpft, ein besonderes Erlebnis garantiert zu bekommen. Doch nur wenige, die im Arbeitsalltag ständig auf Hochtouren laufen, schaffen überhaupt das Kunststück, auf Kommando abzuschalten. Viel wirksamer ist es laut Schnabel, die kleinen Auszeiten permanent in den Arbeitsalltag einzubauen, statt die freien Zeiten dem Nützlichkeitsimperativ zu unterwerfen, seine eigene Schaffenskraft wieder herzustellen. Denn Musse ist mehr als Wellness oder Fitness; «Musse ist eine Haltung», so Schnabel.
Auch Manfred Koch, Literaturwissenschafter an der Universität Basel, ist in seinem kürzlich erschienenen Essay über die Faulheit intensiv der Frage nachgegangen, weshalb die meisten Arbeitnehmenden nicht mehr wissen, wie glückliches Nichtstun überhaupt funk-tioniert. Laut Manfred Koch ist die Tendenz, die Freizeit atemlos zu gestalten und Erlebnisse zu konsumieren, nichts anderes als ein Spiegel der hektischen Arbeitswelt.
Wenn überdies die Arbeit zum einzigen Lebensinhalt geworden ist und den eigenen Status definiert, verkommt die freie Zeit automatisch zum Horror Vacui. Es sind längst nicht nur Führungskräfte mit Dauerstress rund um die Uhr, welche nicht mehr abschalten können. «An der Unfähigkeit zur Musse leiden paradoxerweise auch jene, die ihre Arbeit verloren haben, die Ausgesonderten, die Erwerbslosen, die Zwangsentschleunigten», meint Ulrich Schnabel.
Gerade deshalb ist es so wichtig, das gelegentliche Nichtstun zum permanenten Begleiter zu machen, statt jahrelang sich abzurackern und dann zu meinen, auf Kommando die Energietanks füllen zu können.
Musse hat wenig damit zu tun, die Zahl der freien Stunden zu maximieren. Es geht darum, sich ungestört auf eine Sache konzentrieren zu können, einfach Herr über seine Zeit zu sein. «Doch statt den Flow, den Rausch des konzentrierten Schaffens zu erleben, fühlen sich viele Arbeitnehmende zunehmend fahrig und fremdgesteuert», so Schnabel.
Der Tempowahn sei inzwischen ein Lebensgefühl, das uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen sei, dass wir es für selbstverständlich halten würden. Dabei ist dies ein neuzeitliches Phänomen, erinnert Koch in seiner historischen Analyse des Bedeutungswandels von Faulheit und Arbeit. Körperliche Arbeit war einst verpönt und Sache der Sklaven, Nichtstun war Ausdruck sozialer Privilegierung. Der Mentalitätswandel vollzog sich mit dem Übergang von der Subsistenz- zur Maximierungsökonomie: Alle Formen von Nichtarbeit sind seither verdächtig, Faulheit gilt als schlimmste Sünde der Arbeitsgesellschaft. Der Begriff der Faulheit, wie Koch schön aufzeigt, fungiert heute als Drohung und Stachel. So schnell wird sich daran nichts ändern: «Die Bindung des Selbstwertgefühls an den Beruf hat eher zu- als abgenommen», konstatiert er. «500 Jahre Imprägnierung mit bürgerlicher Leistungs- und Entlohnungsethik legt eine Gesellschaft nicht innerhalb weniger Dekaden ab.»
So kann jeder nur mit einer individuellen Verhaltensänderung etwas zur persönlichen Entschleunigung beitragen, um zur Kunst des Müssiggangs zu finden. Sowohl Manfred Koch wie Ulrich Schnabel machen keinen Hehl daraus, dass dies anstrengend ist. Nicht umsonst nennt Manfred Koch die Faulheit eine «schwierige Disziplin».
Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Verlag zu Klampen, 2012.
Ulrich Schnabel: Musse. Vom Glück des Nichtstuns. Verlag Blessing, 2010.
(Photo: FOTOLIA)