Der Weg in die Sucht ist fliessend. Selbst am Arbeitsplatz bleiben Alkoholprobleme lange verborgen.
In Berufen mit wenig sozialer Kontrolle oder bei körperlich schwerer Arbeit fällt der Griff zur Flasche leichter. Doch die meisten Alkoholiker trinken erst nach Arbeitsschluss – ihr Suchtproblem bleibt lange unbemerkt.
Von Manuela Specker
Lädt der Chef ein, um den Projektabschluss zu feiern, knallen in der Regel die Korken. Wer in dieser Situation bloss Wasser trinkt, erntet kritische Blicke. „Der war bestimmt mal Alkoholiker und muss jetzt trocken bleiben“, heisst es hinter vorgehaltener Hand. Wer hingegen einem Business Lunch als einziger ein Glas Wein bestellt, steht ebenfalls unter Verdacht, Alkoholiker zu sein.
In Fragen des Alkoholkonsums kann man es niemandem recht machen, wenn man gegen den Strom schwimmt. Dies ist zugleich Ausdruck der hohen Bedeutung von Alkohol in der heutigen Gesellschaft als „sozialem Schmiermittel“. Vor diesem Hintergrund ist eine Untersuchung von Ökonomen der Universität Düsseldorf zu sehen, die herausfinden wollten, wie der Alkoholkonsum mit Vertrauen korreliert. Sie kamen zum Schluss, dass moderater Alkoholkonsum den beruflichen Erfolg steigert – gemeinsames Trinken signalisiere, dass man ein kooperativer, produktiver Geschäftspartner sei. Zudem habe der Alkohol eine enthemmende Wirkung, so dass er als „Wahrheitsbeschleuniger“ wirke.
Das „gemeinsame Trinken“ ist also eine Form von Networking, das die eigene Karriere vorantreiben kann. Genau hier liegt der Wurm begraben. Fachleute betonen immer wieder, wie schwierig es ist, als Individuum die Grenze zu ziehen zwischen „moderatem“ und „problematischem“ Alkoholkonsum. Zudem entwickelt sich fast jede Alkoholsucht schleichend über einen langen Zeitraum hinweg. Erhebungen zeigen, dass jeder Fünfte in der Schweiz risikoreich Alkohol konsumiert. Und rund 250`000 Personen gelten als alkoholabhängig. Eine aktuelle Studie der Beratungsfirma Polynomics im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) beziffert die finanziellen Schäden auf bis zu 4,2 Milliarden Franken im Jahr, vor allem wegen der Produktivitätsverluste für die Wirtschaft. Bereits geringe Mengen von Alkohol beeinträchtigen die Aufmerksamkeit, die Konzentration und das Reaktionsvermögen.
Alkoholprobleme sind gemäss Polynomics vor allem im Bau- und Gastgewerbe verbreitet. Gerade bei schweren körperlichen Tätigkeiten kann das Bier als Durstlöscher locken – obwohl es in Tat und Wahrheit den Durst nicht löscht, sondern dem Körper Wasser entzieht. Im Gastgewerbe ist es die Omnipräsenz alkoholischer Getränke, die das Risiko erhöhen. Auch Menschen in Berufen mit viel Kundenkontakt weisen eine höhere Gefahr auf, ein Alkoholproblem zu entwickeln. Ebenso jene, die oft alleine im stillen Kämmerlein arbeiten. Barbara Willimann, Geschäftsführerin der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme, sprach kürzlich gegenüber der NZZ von “gefährdeten Berufsgruppen”. Zu denen zählt sie insbesondere Freischaffende und Selbstständigerwerbende, denen unter Umständen eine ungewisse berufliche Zukunft oder ein unregelmässiges Einkommen zu schaffen macht. Aufgrund der ungeregelten Arbeitszeiten kann es auch an sozialer Kontrolle mangeln, so dass ein risikoreicher Alkoholkonsum lange unbemerkt bleibt.
Es wäre aber ein Trugschluss anzunehmen, in „normalen Arbeitsverhältnissen“ würden Alkoholprobleme schneller registriert – geschweige denn angesprochen. Wegschauen ist die häufigste Reaktion. Nur 23 Prozent der Firmen haben ihre Führungskräfte für den Umgang mit Problemen im Zusammenhang mit Alkohol geschult, in erster Linie Firmen mit mindestens 500 Mitarbeitenden, wie eine Umfrage der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) ergab. Eine der Hauptschwierigkeiten besteht darin, dass es Arbeitskollegen noch immer als Privatsache ansehen, wenn sie bei jemandem Alkoholprobleme vermuten. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, „dass viele Alkoholiker gar nicht während, sondern erst nach der Arbeit trinken“, sagt der Mediziner und Suchtexperte Tillmann Weber. Früher oder später macht sich dies im Arbeitsalltag bemerkbar, sei dies in Form von Unzuverlässigkeit, Leistungsabfall, Niedergeschlagenheit oder vernachlässigter Körperpflege. Es ist in solchen Fällen tatsächlich nicht empfehlenswert, das Alkoholproblem direkt anzusprechen. Gerade suchtkranke Menschen neigen dazu, die eigene Abhängigkeit zu leugnen. Viel wirkungsvoller ist es, auf Veränderungen im Verhalten hinzuweisen. Das ist allemal vielversprechender, als das Problem zu ignorieren.
Was bedeutet „massvoller Konsum“?
Ein Glas Rotwein pro Tag ist gesund – diese Aussage unterschreiben sogar Mediziner. Doch es ist grundsätzlich fragwürdig, das gesunde Mass an Alkoholkonsum quantifizieren zu wollen. Bei Frauen gilt ein Standardglas pro Tag als „massvoll“, bei Männern sind es zwei Standardgläser. Das eine Glas Rotwein pro Tag kann aber dann problematisch werden, wenn jemand nicht mehr anders kann, als sich jeden Abend Alkohol einzuschenken. Der Mediziner und Suchtexperte Tillmann Weber empfiehlt deshalb weder die Trinkmenge noch das Trinkmuster als Indiz für massvollen Konsum. Entscheidender sei die Frage, ob man den Alkoholkonsum noch kontrollieren könne.