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Diktat der Unvernunft

Veröffentlicht am 03.10.2018 von Martin Wehrle - Bildquelle: Thinkstock
Diktat der Unvernunft

Ein Karriereberater und Beststeller-Autor berichtet schonungslos über den Irrsinn in den Büros.

Die durchgedrehte Arbeitswelt ist mein Spezialgebiet, als Karriereberater sitze ich an der Quelle: Unzählige Mitarbeiter berichten mir, was wirklich abgeht an ihren Arbeitsplätzen. Dann zerplatzen die Sprechblasen der Firmen-PR. Dr. Jekyll, das freundliche Firmen-Maskottchen, verwandelt sich in Mr. Hyde, einen begnadeten Motivations-Killer. Zum Beispiel hat mir neulich der Industriekaufmann Jan Nidder (34) berichtet, wie er nach drei Wochen Urlaub zurück zur Arbeit kam. Seine Kollegen in dem Energiekonzern freuten sich riesig, auch weil sie in Arbeit fast erstickten (dank Personalkürzungen). Er krempelte die Ärmel hoch und legte los.

Mittags in der Kantine lief ihm sein Chef, ein passionierter Meeting-Bewohner, über den Weg. Er steuerte direkt auf ihn zu und meinte gönnerhaft: „Herr Nidder, sind Sie denn immer noch hier?“ „Immer noch?“

„Der August ist schon fast zu Ende!“

„Wie meinen Sie das?“

„Na, Sie wollten doch in Sommerurlaub fahren. Jetzt wird’s Zeit!“

Fast wäre Nidder das Tablett aus der Hand gefallen: Sein Chef hatte nicht bemerkt, dass er drei Wochen abwesend war! Fortan spielte er mit dem Gedanken, einfach zu Hause zu bleiben: „Vielleicht fällt’s nicht auf. Und ich bekomme mein Gehalt bis zur Rente weiter.“

Wer die Führungsrichtlinien dieses Konzerns liest, dem vermittelt Dr. Jekyll ein ganz anderes Bild: „Wertschätzung“, „Individualität“, „Mitarbeiterorientierung“ – es hagelt Führungs-Kuschelvokabeln, die im Alltag nur leere Worthülsen sind. Meine Erfahrung: Je lauter eine Firma Compliance predigt, desto mehr wird beschissen. Je lauter sie die Gerechtigkeit preist, desto willkürlicher geht es zu.

Die Wirtschaft boomt, aber die Qualität der Arbeit leidet. Vorgesetzte spielen sich zu Vormündern auf, Überstunden breiten sich wie eine Seuche aus, und Jahres-Endgespräche sorgen für Endzeit-Stimmung. Sechs von zehn Mitarbeitern geben in Studien an, ihrer Firma nicht zu vertrauen. Die Bezahlung? Finden sie unfair. Die Führung? Finden sie unfähig. Und die Chancengleichheit? Sehen sie als Märchen, das oft erzählt, aber kaum gelebt wird.

Wie sieht es in Ihrer Firma aus, wofür werde ich in meiner Firma mit einer höheren Wahrscheinlichkeit belohnt:

  1. Dafür, dass ich die Wünsche meines Kunden perfekt erfülle und ihm helfe, seine Ziele zu erreichen?
  2. Dafür, dass ich die Wünsche meines Chefs perfekt erfülle und ihm helfe, seine Ziele zu erreichen?

Also, wohin fliesst die Energie: zum Kunden? Oder zum Chef? Sehen Sie! Viele Arbeitgeber sind zu Arbeitverhinderern geworden, es herrscht ein Diktat der Unvernunft. Mitarbeiter müssen tun, was ihnen gesagt wird, weil es ihnen gesagt wird – auch wenn es der letzte Humbug ist. Die Regelwerke sind wie Gefängniszäune, sie schliessen den Verstand aus. Der schwerste Fehler, den Sie als Mitarbeiter 200 Jahre nach Beginn der Industrialisierung begehen können? Sie nutzen Ihren Kopf nicht zum Nicken, sondern zum Denken!

Ein paar Beispiele, wie ich sie jede Woche von meinen Klienten höre:

  • Wer sein Management auf ein Problem hinweist, wird selbst mit diesem Problem verwechselt. Dann ist der Termin eben nicht zu eng gelegt, sondern der Mitarbeiter zu langsam. Und basta.
  • Wer die Kundenfreundlichkeit ernster als seine Firma nimmt, wie Emma Zauner, bekommt keinen Orden, sondern wird zur Ordnung gerufen; „Extrawürste“ sprengen die Richtlinien.
  • Und gerade neulich hat mir ein junger Ingenieur erzählt, wie es sich ausgewirkt hat, dass er seinem Chef bei Meetings mehrfach vor einer Fehlentscheidung warnte: Sein nächstes Mitarbeitergespräch geriet zum Kriegsgericht – angeklagt als Deserteur.

Es ist ein Hohn: Überall singen die Firmen das hohe Lied vom modernen Mitarbeiter, überall schwärmen sie vom „Mitunternehmer“ und vom „Wissensarbeiter“. Doch hinter den Firmentoren drehen sich die Zeiger in die falsche Richtung, die Fliessbänder der Bürokratie bringen den Taylorismus zurück: Standard schlägt Verstand.

Vorgesetzte diktieren Abläufe, Dienstwege bremsen zeitnahe Entscheidungen aus, und ein Parcours aus bürokratischen Fallstricken verhindert zwar nicht, dass ein Mitarbeiter pünktlich zur Arbeit kommt, ganz sicher aber, dass er pünktlich zum Arbeiten kommt.

Erwachsene Menschen, nach Feierabend geschäftsfähig als Lebenspartner, Eltern oder Häuslebauer, geraten in ein riesiges Entmündigungsverfahren. Ihre Meinung ist nicht gefragt, ihr Handeln vorgegeben.

Warum sind die meisten Konzerne in Deutschland und der Schweiz über 100 Jahre alt? Und warum werden die Grosskonzerne der Gegenwart –Google, Facebook, Alibaba – stets auf anderen Kontinenten gegründet? Weil es an einer Unternehmenskultur fehlt, in der denkende Mitarbeiter willkommen sind.

Martin Wehrle ist Deutschlands bekanntester Karriereberater und ein viel gebuchter Keynote Speaker. Dieser Artikel ist ein Auszug aus sein neuem Buch „Noch so ein Arbeitstag, und ich dreh durch“ (Mosaik, 2018).