Was verloren geht, wenn Firmen ihren Mitarbeitenden das papierlose Büro aufzwingen werden.
Das papierlose Büro wird seit über 15 Jahren beschworen und erntet bestenfalls noch ein müdes Lächeln. Trotzdem deutet einiges darauf hin, dass Büro-Landschaften bald nicht mehr wiederzuerkennen sind. Die Politik macht bereits ernst: So haben die eidgenössischen Räte eine Motion gutgeheissen, wonach der Ratsbetrieb papierlos werden soll. Einzig die vorgesehene Frist bis Ende 2019 wurde vom Ständerat gekippt, da die Sicherheit der Datenbearbeitung jederzeit gewährleistet sein muss. Aber dass den Parlamentsmitgliedern irgendwann keine Dokumente mehr in Papierform verteilt werden, ist beschlossene Sache. Und angesichts des Ressourcenverschleisses ist das vernünftig: Im Parlament werden jedes Jahr etwa 10 Millionen Blatt Papier verbraucht, was einem Waldstück in der Grösse des Bundesplatzes entspricht. Hinzu kommt, dass viele Dokumente ungelesen im Papierkorb verschwinden dürften, was eine Digitalisierung eben dieser Dokumente umso dringender macht. Auch Kantonsparlamente befinden sich auf dem Pfad zur Papierlosigkeit: Der Ratsbetrieb der Luzerner Legislative beispielsweise wird ab Mitte dieses Jahres vollkommen auf digital umgestellt haben.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Firmen diese Wege in dieser Konsequenz beschreiten. Das Problem: Die Arbeitssituation in Unternehmen lässt sich nicht mit jener in den Parlamenten vergleichen, wo alle per se aufgrund der Anzahl an unterschiedlichen Geschäften einen hohen Papierverschleiss haben. Steigt ein Unternehmen auf das papierlose Büro um, verschwinden Drucker und Schreiblock und lässt sich Papier bestenfalls noch auf dem WC finden, hat das ganz andere Konsequenzen als in einem Parlamentsbetrieb.
Nicht nur eine technologische Angelegenheit
Hüten wir uns davor, eine solche Umstellung von analog auf digital als rein formelle und technologische Angelegenheit zu sehen. Sie wird ganze Arbeits- und Denkweisen auf den Kopf stellen. Ob zum Guten, sei dahingestellt. So belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass digital die Informationen anders verarbeitet werden auf Papier. Das zeigt sich nicht nur an den Augenbewegungen, sondern auch, dass oft nur der Anfang und das Ende präzise gelesen werden, während der Mittelteil auf die Schnelle überflogen wird. „Das digitale Lesen ist auf Geschwindigkeit geeicht“, sagt die Leseforscherin Maryanne Wolf im Interview mit der Zeitschrift „NZZ Folio“. Sie zitiert eine Metananalyse von mehr als 50 Studien. Dabei zeigte sich: Jene Personen, welche auf Papier lasen, entwickelten ein besseres Textverständnis, erinnerten sich an mehr Details und konnten den Handlungsstrang besser nacherzählen. Maryanne Wolf ist überzeugt: Mit dem rein digitalen Lesen gehen Tiefenverständnis sowie kritisches und analytisches Denken verloren.
Hinzu kommt: Müssen sich Mitarbeitende in Firmen einem solchen Regime unterwerfen, wird ein kapitaler Führungsfehler begangen. Anstatt zu berücksichtigen, dass jeder seine eigenen Präferenzen in der Informationsverarbeitung hat, werden alle in ein Korsett gepresst. Das ist eine der neuralgischen Stellen von so vielen Digitalisierungsstrategien: die Absolutheit, mit der sie in alle Winkel ausgedehnt werden.
Natürlich spricht nichts dagegen, mehr Prozesse zu digitalisieren und den Papierverbrauch zu reduzieren. Es gibt unschätzbare Vorteile, wenn von analog auf digital umgestellt wird. Rechnungen beispielsweise, die noch auf Papier eintreffen, werden in vielen Unternehmen mittlerweile eingescannt und digital verarbeitet, das Visum erfolgt dann nicht mehr mit dem Kugelschreiber, sondern per Mausklick. Das verschlankt die Prozesse. Auch macht es überhaupt keinen Sinn, E-Mails auszudrucken und diese abzulegen. Dafür eignet sich die Archiv-Funktion innerhalb des E-Mailprogramms, das mit der Suchfunktion ermöglicht, E-Mails nicht nur nach Absendern, sondern nach Stichworten zu durchforsten.
Besser papierarm statt papierlos
Aber bereits wenn Mitarbeitende gezwungen sind, Notizen künftig auf einem Tablet mit digitalem Stift zu machen, fangen die Probleme an. Zwar können derlei Notizen im Handumdrehen per PDF weiterverschickt oder mit anderen Notizen zusammengefügt werden. Das ist ja alles ganz praktisch. Aber das wird gleichzeitig die Kreativität hemmen. Wenn andere mitlesen können, hat jeder schon einmal eine Zensurschere im Kopf. Hinzu kommt: Schreiben und Lesen sind keine simplen Vorgänge, sondern enthalten immer auch eine haptische Erfahrung. Und so kann aus papierlos eben schnell einmal geistlos werden. Die Losung müsste also vielmehr „papierarm“ statt „papierlos“ lauten. Abgesehen davon: Wer ein Dokument nach wie vor lieber auf Papier lesen will, druckt es dann halt einfach zu Hause aus. So verschwimmen aber die Grenzen zwischen beruflich und privat auch im materiellen Sinne noch stärker.