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Wenn Algorithmen das Bauchgefühl ersetzen

Veröffentlicht am 04.10.2019 von Oliver Stübs- Bildquelle: Shutterstock
Wenn Algorithmen das Bauchgefühl ersetzen

Künstliche Intelligenz hält vermehrt Einzug in der Personalauswahl. Was bedeutet das genau?

Die digitale Transformation durchdringt alle Lebensbereiche – zunehmend auch die Personalabteilungen von Unternehmen. Hierzulande treffen digitale Recruiting-Technologien noch auf erhebliche Wissenslücken in Unternehmen und unter Recruitern. Sicherlich ist dies ein Grund, warum von einer breiten Marktdurchdringung entsprechender Tools noch keine Rede sein kann, während in den USA die Personalauswahl via Roboter bereits zum guten Ton gehört.

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz verspricht eine höhere Objektivität in der Beurteilung von Bewerberinnen und Bewerbern. Die Realität offenbart jedoch ein anderes Bild: So zeigte beispielsweise das automatische Bewertungssystem von Bewerbungen bei Amazon, dass auch Bewerbungsroboter diskriminieren können – in diesem Fall Frauen. Seit 2014 war intern ein Algorithmus entwickelt worden, der unter mehreren Bewerbungstexten automatisch jene der vielversprechendsten Bewerber herausfiltern sollte. Die zugrundeliegende Datenbasis fusste auf Erkenntnissen aus den Unterlagen bereits eingestellter Bewerber. Da diese jedoch von technikaffinen Männern dominiert wurden, filterte der Algorithmus Bewerberinnen systematisch heraus. Der ursprüngliche Plan, die Software den Auswahlprozess komplett übernehmen zu lassen, wurde aufgegeben.

Daten nicht blind vertrauen
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass die Qualität der Entscheidung eines Roboters letztlich von der Qualität des eingespeisten Datensatzes und vom folgenden Training abhängt. Ein Algorithmus analysiert und bewertet vom Menschen vorgegebene Daten und erstellt daraus Zusammenhänge mit einer Vergleichsgruppe. Enthält die Datenbasis Tendenzen, dann kann dies zu fehlerhaften und diskriminierenden Algorithmen führen, die konsequent reproduziert werden. Hieraus folgt die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Kontrolle und Einschätzung der zugrundeliegenden Daten und der daraus resultierenden Urteile. Ein weiteres Risiko besteht in der Tatsache, dass künstliche Intelligenz lernende Algorithmen kennzeichnet. Wie diese im weiteren Verlauf zu ihren Ergebnissen gelangen, ist irgendwann nicht mehr nachvollziehbar – die genaue Funktion wandert in die Blackbox und weder Bewerber noch Personaler können einschätzen, warum ein Kandidat abgelehnt oder befürwortet wird.

Das sogenannte Robot Recruiting ist heute also noch nicht in der Lage, den gesamten Recruiting-Prozess zu übernehmen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Personalarbeit ist jedoch keineswegs ein Novum: Dass Chatbots eine Vielzahl sich wiederholender Bewerberfragen autonom und effizient auf Basis einer Wissensdatenbank beantworten, gehört in vielen Unternehmen bereits zum Standard. Der Chatbot Mya des Start-ups Mya-Systems, der unter anderem bei L’Oréal zum Einsatz kommt, ist in der Lage, den Bewerbern Sachfragen zu stellen und zu entscheiden, ob ihr Profil den vorgegebenen Anforderungen entspricht. Dabei lernt der Chatbot mit jeder Interaktion dazu und passt seine Antworten entsprechend an. Das Echo auf Bewerberseite fällt positiv aus, insbesondere innerhalb der Generation Y – sie schätzt die kurzen Antwortzeiten und durchgehende Erreichbarkeit sowie die Applikation via Smartphone.

Vorselektion mit Tücken
Erwähnenswert ist auch das CV-Parsing: Wesentliche Daten aus dem CV oder aus Online-Profilen werden automatisch ausgelesen und in eine Bewerberdatenbank transferiert. Teils kommen Algorithmen zum Einsatz, welche die Lebensläufe auswerten und dem Recruiter eine Shortlist zur Verfügung stellen. Im Rahmen dieser Übereinstimmungsanalyse gleicht das System zuvor eingespeiste Stellenanforderungen und vorliegende Bewerberqualifikationen ab und ordnet automatisch passende Kandidaten mit einer prozentualen Angabe der Übereinstimmung zu.

Parsing offenbart allerdings auch Schwächen: Während der menschliche Leser Rechtschreibfehler verzeiht oder übersieht, führen diese bei der Software zur Nichterkennung und schlimmstenfalls zu einer Aussortierung. Werden zudem nicht die lokal üblichen unternehmens- oder branchentypischen Keywords verwendet, können auch exzellente Nichtmuttersprachler durchaus in der Ablage landen. Auch gebrochene Lebensläufe, die für den geschulten Personalerblick eventuell einen besonderen Wert erkennen lassen, rutschen so durch das Raster. Das Ergebnis ist eine Liste nach gewissen Kriterien idealer, aber zugleich recht homogener Kandidaten. Recruiter müssen in Zukunft vermehrt dafür Sorge tragen, dass die automatisierte Vorauswahl nicht zu Lasten von Veränderungsfähigkeit gehen.