Arbeitsfrei und doch unzufrieden: Wenn das Wochenende zur Tortur wird
Eigentlich ist es erfreulich, wenn ein ganzes arbeitsfreies Wochenende vor einem liegt. Und doch sind es vor allem die Sonntage, die manchen aufs Gemüt drücken. Das kann verschiedene Ursachen haben, aber eine davon begünstigt den Sonntagsblues ganz besonders: der radikale Wechsel von Hochspannung zum Nichtstun. Gerade wer unter der Woche stark unter Druck ist, am Samstag sich um Einkäufe und Haushalt kümmert und am Sonntag endlich einmal Zeit für sich hätte, kann mit der freien Zeit nicht zwingend gut umgehen. So gesehen können nicht nur Sonn-, sondern auch Feiertage eine Belastung anstatt eine Bereicherung sein, im Extremfall sogar die Ferien. Das Phänomen hat in der Medizin einen Namen: „leisure sickness“. Ein sehr hohes Pflichtgefühl, gepaart mit ständigem Streben nach beruflicher Bestätigung, machen es oft schwierig, in der Freizeit abschalten zu können. Erholung funktioniert nun mal nicht auf Kommando.
Laut einer Untersuchung der Universität Hamburg haben vor allem Menschen mit hohem Bildungsstatus Mühe mit ihrer sonntäglichen Freizeit. Erst recht, wenn sie sich stark über den Beruf definieren und unter der Woche sehr viel Energie in die Arbeit stecken, um perfekte Ergebnisse abzuliefern. Vor lauter Arbeit kommen sie oft gar nicht mehr dazu, sich mit anderem als den beruflichen Herausforderungen zu beschäftigen. Bleiben diese aus, ist das Horror vacui nicht weit. „Die Nerven leiden genau dann am meisten, wenn alle Meetings erledigt und alle Fristen eingehalten worden sind. Losgelöst von Alltagszwängen bietet sich plötzlich allzu viel Zeit zum Grübeln. Bin ich eigentlich zufrieden mit meinem Leben? Und was erwartet mich bloss in der nächsten Woche?“, analysiert treffend die Autorin Julia Hackober im digitalen Magazin „Iconist“.
Gerade bei hohem Druck am Arbeitsplatz kann die Ursache des Sonntagsblues in der Aussicht auf die kommende Woche liegen, wie auch der Leiter der Hamburger Studie, Wolfgang Maenning, betont. Das Ausmass der Unsicherheiten im Berufsleben sei gestiegen. Viele würden deshalb am Sonntag schon Horror vor der Woche empfinden, weil sie nicht wüssten, was sie am Montag erwartet, so der Ökonomieprofessor.
Der zunehmende Druck und Stress manifestiert sich auch in den Absenzen: Immer mehr Mitarbeitende fehlen wegen psychischer Probleme am Arbeitsplatz. Laut einer Analyse der Krankenversicherung Swica haben die Krankheitsfälle in den letzten fünf Jahren um 20 Prozent zugenommen, wobei die psychischen Erkrankungen mit 35 Prozent am stärksten gestiegen sind, wie die „NZZ am Sonntag“ jüngst berichtete. Die Schuld einseitig bei der Arbeit oder bei den Arbeitgebern zu suchen, ist allerdings verfehlt. Einer Arbeit nachgehen zu können hat auch einen positiven Effekt auf die Psyche, weil damit soziale Kontakte, eine Tagesstruktur sowie eine Möglichkeit der Identifikation einhergehen.
Mit eben dieser Identifikation scheinen es aber manche zu übertreiben. Spätestens dann, wenn die freien Tage zur Bürde werden, sollten die Alarmglocken klingeln. Der Sonntagsblues ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, da der einseitige Fokus auf Leistung und Performance auch in einem Burnout oder in einer Depression münden kann. Der Berliner Philosophieprofessor Byung-Chul Han spricht vom „Leistungssubjekt“: Der typische Arbeitnehmer des 21.Jahrhunderts muss nicht mehr kontrolliert und zur Leistung angetrieben werden, er beutet sich gleich selber aus mit seinen hohen Ansprüchen. „Krank macht in Wirklichkeit nicht das Übermass an Verantwortung und Initiative, sondern der Imperativ der Leistung als neues Gebot der spätmodernen Arbeitsgesellschaft“, schreibt er in seiner luziden Analyse der „Müdigkeitsgesellschaft“. Die Leistungsgesellschaft ist für Byung-Chul Han eine Gesellschaft der Selbstausbeutung. So sehr die Arbeitgeber, die immer mehr Leistung erfordern, in der Verantwortung stehen, so sehr sollte sich auch jeder Arbeitnehmer hinterfragen, der so stark auf die berufliche Identität setzt, dass arbeitsfreie Tage zur Tortur werden.